Abgeordnetenspalte:
Täterschaft aufarbeiten

25. August 2023

Dieser Text erschien am 25. August 2023 im Schwäbischen Tagblatt in der Rubrik “Abgeordnetenspalte”


Das Gedenken an den Mössinger Generalstreik, die vorbildliche wissenschaftliche Erforschung rund um das Gräberfeld X, die KZ-Gedenkstätte Hailfingen/Tailfingen oder die hervorragende Arbeit der Jugendguides: Im Kreis Tübingen halten wir vielfach die Erinnerung an die Vergangenheit wach. Wir benennen nationalsozialistisches Unrecht und Verantwortliche und gedenken der Opfer. Beide Seiten der Erinnerungskultur gehören zusammen. Doch wie sieht es im Landtag von Baden-Württemberg aus? Dort erinnert ein Gedenkbuch an jene südwestdeutschen Abgeordneten, die von den Nazis verfolgt wurden, die gegen Diktatur, Krieg und Völkermord Widerstand leisteten. Das ist eine würdige Form des Gedenkens. Ich bin aber überzeugt: Mit einem Dreivierteljahrhundert Abstand zur Gründung der Bundesrepublik wird es Zeit, insbesondere die Kontinuitäten in diesem Teil unserer Geschichte aufzuarbeiten. 


Viele Größen und Protagonisten der frühen Bundesrepublik hatten bereits in der NS-Diktatur Verantwortung getragen. Dies wird im Landtag nicht sichtbar. Deshalb habe ich Landtagspräsidentin Aras einen Brief geschrieben und eine kritische Auseinandersetzung mit Carl Neinhaus, dem ersten Landtagspräsidenten, angeregt, der im Foyer des Landtags mit einer Büste geehrt wird. Neinhaus war von 1928 bis 1945 Oberbürgermeister von Heidelberg, der einzige in Baden, der nach 1933 im Amt blieb. Noch im Mai 1933 trat er der NSDAP bei und war einer von vielen tausend Opportunistinnen und Opportunisten in den öffentlichen Verwaltungen, die den Terror der NS-Zeit erst ermöglichten.


Neinhaus war kein Einzelfall, mindestens ein Dutzend Mitglieder des Landtags von Baden-Württemberg und der drei Vorgängerländer waren zumindest NSDAP-Mitglied. Wir müssen uns kritisch mit dieser Facette unserer Geschichte auseinanderzusetzen. Das ist wichtiger denn je. Geschichtsrevisionismus, Rechtspopulismus, Rassismus und Antisemitismus sind auf dem Vormarsch. Dass die CDU im Landtag als erste Reaktion auf meinen Brief vor Skandalisierung warnt, lässt tief blicken.